- Beate Reifenscheid
Die documenta 15 und ihr mangelnder Diskurs zum Antisemitismus
Eine Stellungnahme von Beate Reifenscheid, Präsidentin ICOM Deutschland
„Die Kunst ist eine Schwester der Freiheit“, schrieb bereits Friedrich Schiller 1795 in seinen Briefen „Über die aesthetische Erziehung des Menschen“.1 Er war gänzlich eingenommen von den Vorboten der Französischen Revolution. Die Grenzen der Freiheit waren bereits in der französischen „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" vom 26. August 1789 im Artikel 4 mit dem berühmten Satz „Die Freiheit besteht darin, dass man alles das tun kann, was einem anderen nicht schadet" zusammengefasst.
Künstler*innen in vielen demokratischen Staaten berufen sich auf eben diese Freiheit des Geistes in ihrem Schaffen und in ihrem künstlerischen Ausdruck. Diese Freiheit muss unantastbar bleiben, wenn wir weiterhin darauf vertrauen wollen, dass wir durch die Künste eine andere Sicht auf die Dinge, unser Leben und unsere Gesellschaft gewinnen wollen. Wenn wir die Welt in ihrer Komplexität und mit ihren Problemen besser fassen wollen. Was es bedeutet, wenn Kunst eingeschränkt und durch Politik oder Religion instrumentalisiert wird, erleben wir aktuell weltweit. Diese Instrumentalisierung erinnert uns aber auch an das, was die Propaganda und das Kulturdogma einer verstörenden Rassenideologie während der NS-Diktatur angerichtet haben. Rechtsextremismus gewinnt trotz dieser historischen Verbrechen seit Jahren wieder an Zulauf und wird erneut auch über die Kultur ausgetragen. Aktuell erfährt dies die Weltgemeinschaft hautnah, indem sie erleben muss, was die russischen Invasoren in der Ukraine anrichten und wie sehr sie es darauf anlegen, die ukrainische Kultur auszulöschen. Putin und seine militanten Mitstreiter berufen sich in ihrem Handeln auf die Nationalsozialisten, von denen sie die Ukraine angeblich befreien müssten, und begehen ebensolche Verbrechen.
Das Kuratoren-Kollektiv Ruangrupa hat es zugelassen, dass auf der documenta 15 das Künstler-Kollektiv Taring Padi ein Kunstwerk ausgestellt hat, das Elemente enthält, die – jenseits jeder Kontextualisierung – als antisemitisch angesehen werden müssen. Die Schwere und das Verstörende dieses Kunstwerks liegen in dem offensichtlichen Widerspruch, den die Künstler selbst liefern, als sie am Montag öffentlich verlautbarten, dass die Arbeit "keine Inhalte, die darauf abzielen, irgendwelche Bevölkerungsgruppen auf negative Weise darzustellen" enthalte.2 Das Kunstwerk selbst zeigt es anders, denn es setzt Juden und Nazi-Schergen in eins. Das weiß man auch im globalen Süden, der sicherlich andere Narrative ausbildet. Gerade deshalb wären Diskussionen und Diskurs so dringend erforderlich gewesen.
Wie man es dreht und wendet: Es wird nicht schlüssig, das gesellschaftliche und politische Bekenntnis, das sowohl das Kuratoren- als auch das Künstler-Kollektiv hier liefern. Es reicht nicht aus, sich auf die „Freiheit der Kunst zu berufen“, wie es schützend auch die Verantwortlichen der documenta 15 zunächst bemüht haben. Ein zu Recht hohes Gut unseres westlichen, demokratischen Kunstverständnisses. Das Irritierende jedoch ist in diesem Kontext die vielfach formulierte Bitte um Klärung und um Austausch, dem nicht ernsthaft nachgekommen wurde. Kritische Anmerkungen und Mutmaßungen, dass Ruangrupa Künstler*innen involviert habe, die dem BDS naheständen, gab es seit Veröffentlichung der Liste der Teilnehmenden, kritische Kommentierungen, dass keine Künstler*innen aus Israel dabei seien, wurden ebenso früh geäußert. Dies alles muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Macher*innen und die Künstler*innen wirklich Israelfeindlich und antisemitisch sind, aber es eröffnete ein berechtigtes öffentliches Interesse an Aufklärung, das nicht mit plausiblen Argumenten entkräftet wurde. Es ist ein ernstgemeintes Interesse an Transparenz, das nicht nur in Deutschland besondere Berechtigung erfährt, sondern weltweit die Frage zum Umgang mit Diskriminierungen aufwirft. Gerade aber in Deutschland und mit Wissen über die Verbrechen der Shoah und den bis heute schwelenden antisemitischen Tendenzen muss von einem Kuratoren-Team, das internationale Erfahrungen im Ausstellungsbetrieb hat, erwartet werden, dass es diesen Resonanzboden der Geschichte kennt. Und tatsächlich begründen sie ihren kuratorischen Ansatz mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg und mit dem auf die ebenso belastete Geschichte der Documenta selbst: „Unser kuratorischer Ansatz zielt auf ein anders geartetes, gemeinschaftlich ausgerichtetes Modell der Ressourcennutzung – ökonomisch, aber auch im Hinblick auf Ideen, Wissen, Programme und Innovationen. Wenn die documenta 1955 antrat, um Wunden des Krieges zu heilen, warum sollten wir nicht versuchen, mit der documenta 15 das Augenmerk auf heutige Verletzungen zu richten. Insbesondere solche, die ihren Ausgang im Kolonialismus, im Kapitalismus oder in patriarchalen Strukturen haben. Diesen möchten wir partnerschaftliche Modelle gegenüberstellen, die eine andere Sicht auf die Welt ermöglichen.“3
Es stellt sich wie im Brennglas nun jedoch die Frage, wie ernsthaft dieser Anspruch umgesetzt und wie aufrichtig Transparenz und ethisches Handeln eingelöst wurden. Im Augenblick jedenfalls zeigt diese Sicht durchs Brennglas in eine falsche Richtung: mangelnde Transparenz und fehlende Bereitschaft zum ernstgemeinten Dialog, mehr noch, das Zulassen genau jener Diskriminierungen gegen die sich gerade die Kunst, ihre Kuratoren und die documenta richten sollte. Die hohen Erwartungen an ein Kuratoren-Kollektiv versprachen einen anderen, offeneren Diskurs. All dies ist nun aufs Spiel gesetzt worden und stellt zudem all jene Künstler*innen in den Schatten, die wegen dieses Eklats nicht mehr angemessen wahrgenommen werden. Maximaler könnte der Schaden nicht sein: weder in der internationalen Wahrnehmung noch im Hinblick auf das Kuratoren-Kollektiv noch auf die betroffenen Künstler selbst und nicht zuletzt für die Verantwortlichen der documenta.
Warum wurde die Freiheit der Kunst nur so missverstanden? Die Freiheit hört dort auf, wo sie dem anderen schadet. Es gibt keine Freiheit um jeden Preis, schon gar nicht um den der Verantwortung, der Ethik und des Respekts. Antisemitismus und jede andere Form der Diskriminierung müssen entschieden immer abgelehnt werden. Die documenta – als großartiges Konzept eines Weltmuseums auf Zeit – darf diesem keinen Raum bieten. Die Ethik des Kuratierens durch Ruangrupa löst hier die immanenten Widersprüche nicht auf, die sich seit längerem erhärtet haben. Verantwortliches Handeln aller Beteiligten hätte diese so kostbare Freiheit geschützt. So aber erweckt es den Eindruck, als habe man diese nur rhetorisch bemüht, aber sich selbst damit ausgebremst, indem man sehenden Auges diskriminierende, antisemitische Haltungen, Taten und Kunstwerke nicht wahrhaben wollte.
Die internationale Museumswelt (be)müht sich seit Jahren intensiv um einen gesellschaftlichen Diskurs, der transparentes Handeln ebenso erwartet wie das Eintreten gegen Diskriminierung jedweder Art. Sie rückt damit die Kraft der Museen und mit ihnen diese Orte als kultureller Aktionsraum und Gedächtnisspeicher in die Mitte gesellschaftlichen Miteinanders. Die Museen begreifen sich als Zentren kultureller Diskurse und des offenen Dialogs. ICOM‘s „Code of Ethics“, aktuell in Überarbeitung vom Weltverband, liefert hierfür eine entscheidende Basis der Museums- und Kurator*innenarbeit. ICOM Deutschland fordert deshalb die Documenta-Akteur*innen zum klärenden Diskurs auf. Der Blick auf die „heutigen Verletzungen“ wird ausdrücklich begrüßt, sofern er die Freiheit der Kunst nicht zu Lasten des anderen opfert.
Ihre Beate Reifenscheid
Präsidentin ICOM Deutschland
1 https://www.deutschestextarchiv.de/book/view/schiller_erziehung01_1795?p=5
2 https://www.zeit.de/kultur/kunst/2022-06/documenta-antisemitismus-vorwurf-banner-verdeckt?page=6
3 https://www.kassel.de/buerger/kunst_und_kultur/documenta15/ruangrupa.php